„Wir sind der Exot unter den Exoten“

Bildungszentrum Hermann Hesse
„Wir sind der Exot unter den Exoten“


Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne: Das Frankfurter Bildungszentrum Hermann Hesse gibt
drogensüchtigen und psychisch kranken Schülern eine neue Chance.

Von Rainer Schulze (FAZ.NET; 26.10.2022)

„Wir sind der Exot unter den Exoten“

In der elften Klasse war für Torben Schluss. Die Drogen – vor allem Cannabis, aber auch der Alkohol – forderten ihren Tribut. Torben bekam sein Leben nicht mehr auf die Reihe, er verließ die Schule Heute wundert er sich, dass er überhaupt so lange durchgehalten hat. Denn seine Sucht hatte schon früher angefangen. „Die Zeugnisse ab der 9. Klasse lassen sich nicht sehen.“
Heute ist Torben 23 Jahre alt, in Therapie und abstinent. Seit einem Jahr geht er wieder zur Schule, mit einem klaren Ziel vor Augen. Im nächsten Frühjahr will er sein Abitur machen. Die Aussicht auf den Schulabschluss hilft ihm dabei, vom Rauschgift die Finger zu lassen: „Ich wollte nicht mit 30 sagen, dass mir die Drogen das Abitur kaputt gemacht haben.“
Wenn alles klappt, dann wird Torben aus Südhessen in einem Jahr einer von rund 1500 Schülern sein, die in den vergangenen 50 Jahren am Bildungszentrum Hermann Hesse ihren Schulabschluss nachgeholt haben. In dem schlichten Bürohaus am Hainer Weg in Sachsenhausen verbirgt sich keine normale Schule. Das Bildungszentrum wendet sich an junge Menschen, die drogensüchtig sind oder an einer anderen psychischen Erkrankung leiden. Es ist „die Schule für neue Chancen“.


In Deutschland einzigartig
Viele Schüler, die in ihrem jungen Leben eine falsche Abzweigung genommen haben, können hier neu beginnen. Wenn sie den Innenhof betreten, kommen sie an einem Wandbild vorbei, von dem überlebensgroß Hermann Hesse blickt. Der Schriftsteller, der vor allem viele junge Leser berührt, hält eine Frucht in der Hand, daneben prangen eine Sonnenblume und das berühmte Hesse-Zitat „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne . . .“.

Das Bildungszentrum ist eine private Förderschule, an der man jeden Schulabschluss ablegen kann, vom Haupt- über den Realschulabschluss bis zum Abitur. Das ist in Deutschland einzigartig. „Wir sind der Exot unter den Exoten“, sagt Jan Große, der die Schule seit elf Jahren leitet. Er wirkt kernig, robust, lebensklug. Mit den beiden Ohrringen, dem Rundhalspulli und der Glatze hat er äußerlich etwas Ähnlichkeit mit der Werbefigur Meister Proper. Morgens fährt er oft mit dem Motorrad zur Arbeit.

Wer die Schule besucht, muss monatlich 350 Euro zahlen. Mithilfe dieser Gebühr wird unter
anderem die schuleigene Sozialarbeit finanziert, für die viereinhalb Stellen zur Verfügung stehen. Jedem Schüler ist ein Sozialarbeiter zugewiesen, der ihn über die gesamte Schulzeit hinweg umfassend berät – egal ob es um Sucht und Abstinenz geht oder um Geldsorgen, Wohnungssuche, Beziehungsprobleme. „Ohne das würde das Ganze hier nicht funktionieren. Die Leute, die hierherkommen, bringen mindestens ein großes Päckchen mit“, sagt Große. Oft leiden sie neben der Sucht an weiteren psychischen Erkrankungen: Depressionen, ADHS, Bipolarität.

Mehrere Sozialträger unterstützen die Schüler bei der Übernahme der Kosten. Bei Torben zum
Beispiel zahlt der Landeswohlfahrtsverband den Schulplatz. Der Verband springt ein, wenn eine diagnostizierte Abhängigkeit vorliegt. Bis zum 21. Lebensjahr übernimmt das Jugendamt das Schulgeld.


Abenteuerliche Lebenswege und bewegende Schicksale

„Unsere Schüler haben oft den Status einer seelischen Behinderung“, sagt Große. Sie haben – wie Torben aus Südhessen – ihren Schulweg nicht zu Ende gehen können, weil sie suchtkrank geworden sind. Die Ersten kamen 1971, damals wurde die Schule gegründet. Die „Ahnengalerie“ im Keller führt von den Anfangsjahren bis in die Gegenwart. In großen Rahmen hängen dort viele Schwarz-Weiß-Fotos: Alle Schüler und Lehrer, die jemals die Hermann Hesse Schule – so der ursprüngliche Name des Bildungszentrums – besucht oder dort gearbeitet haben, wurden porträtiert. Hinter vielen Bildern verbergen sich abenteuerliche Lebenswege und bewegende Schicksale.

Rund 25 Schüler machen hier jedes Jahr ihren Abschluss. Etwa 100 lernen gemeinsam, auf die
unterschiedlichen Zweige und Jahrgangsstufen verteilt. 20 Lehrer und sieben Sozialarbeiter  kümmern sich um sie. Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern ist intimer als an einer gewöhnlichen Schule. Das beginnt schon damit, dass sich hier alle duzen. Für manche Schüler ist dies ungewohnt, erleichtert aber den Zugang: „Wir können nur helfen, wenn wir die Probleme kennen“, sagt Große. „Wenn jemand nicht kommt, rufen wir an und fragen, was los ist.“
Wer im Hermann Hesse Bildungszentrum zur Schule gehen will, muss sich verpflichten, abstinent zu sein. Er steigt zunächst in die Eingangsstufe ein. Dort kann er sich ohne Leistungsdruck orientieren, welcher Abschluss der richtige für ihn ist. Nach rund drei Monaten gliedert sich der Schulweg auf: in Hauptschule, Realschule, gymnasiale Oberstufe und Fachhochschulreife. Die Schüler haben bis zu drei Jahre Zeit, um ihren Abschluss zu erwerben. „Wer lange aus dem Schulsystem raus war, der braucht länger“, sagt Große. Er nennt das die „schulische Resozialisierung“.


Vielseitiges Angebot und kleine Klassen
Die Schüler sind zwischen 16 und 35 Jahre alt, der Durchschnitt liegt bei 24 Jahren. Zwei Drittel sind Männer. Das Angebot ist vielseitig, es beginnt mit der neunten Klasse und führt bis zum Abitur. Die Klassen sind klein: Gelernt wird in Gruppen von acht bis zwölf Schülern. So können die Lehrer intensiver auf die Schüler eingehen. Der Stundenplan entspricht dem einer allgemeinbildenden Schule. Das Niveau sei vergleichbar mit anderen Abschlüssen, sagt Große: „Das sind keine weichgespülten Prüfungen.“

Der Schultag beginnt am Hermann Hesse Bildungszentrum um 8 Uhr mit einem offenen Anfang. Die Schüler treffen sich im Café, essen und trinken eine Kleinigkeit, machen die letzten Hausaufgaben. Um 8.30 Uhr geht es los mit dem Unterricht, der nach fünf Stunden endet. Wenn um 14 Uhr das Café schließt, ist auch der Schultag zu Ende.

Das Bildungszentrum will die Schüler nicht mit zu hohem Leistungsdruck überfordern. Es setzt auf eine „Politik der Unterbrechung“, wie Große sagt: Wenn jemand nicht schulfähig ist, etwa weil er nicht länger abstinent sein kann, verlässt er die Schule. Doch er kann wiederkommen und einen neuen Anlauf wagen, wenn er so weit ist. Das kommt häufig vor: Etwa 20 Prozent eines Abschlussjahrgangs haben mehrere Anläufe gebraucht. „Wenn jemand aufhört, ist das kein Scheitern per se. Jeder, der eine Zeit hier war, nimmt etwas mit“, sagt Große. „Wir trennen uns im Guten. Die Tür bleibt offen.“


„Viele wünschen sich einfach ein normales Leben“
Die Schüler kommen aus ganz unterschiedlichen Milieus. Bei manchen sind die Eltern arbeitslos, andere kommen aus einem gutbürgerlichen Haushalt. Auch die Art der Abhängigkeit hat sich über die vergangenen fünf Jahrzehnte verändert: Während früher bei den Drogen die Opiate überwogen, spielen sie heute kaum noch eine Rolle. Mehr als die Hälfte der Schüler hat der Cannabiskonsum aus der Schullaufbahn geworfen, zusammen mit Alkohol sind es gut drei Viertel. Eine Heroinsucht kommt  kaum vor. Große erklärt dies so: „Wenn ich Heroin konsumiere, falle ich aus jedem sozialen Rahmen. Bei Cannabis kann man noch relativ lange und gut funktionieren.“

Rund 1500 Schüler haben seit 1971 am Bildungszentrum ihren Abschluss nachgeholt. Aber der Erfolg der Schule lässt sich nicht in Zahlen messen. Immer wieder gibt es Rückfälle, auch tragische. Wie es nach dem Schulabschluss weitergeht, wird nicht statistisch erfasst. Oft verliert sich die Spur. Aber zu den Sommerfesten kommen immer wieder Ehemalige, die es geschafft haben.

So wie die junge Frau, die mehrere Anläufe brauchte, als Schülerin im Deutsch-Leistungskurs glänzte, sich dann aber wieder im Bahnhofsviertel prostituierte, eines Tages doch den Schulabschluss schaffte und bei einem Sommerfest berichtete, dass sie nun in der Stadtverwaltung arbeite. Andere wurden Sozialarbeiter, studierten Psychologie oder schafften es bis zur Vorstandsassistentin. Aber große Karrieren hat hier kaum jemand im Sinne. Die Hoffnungen sind oft sehr bescheiden. „Viele wünschen sich einfach ein normales Leben. Das hat einen großen Wert für Menschen, die ganz unten waren“, sagt Große.


Drogenkonsum in der Schule führt zum Ausschluss
Der Schulleiter ist nicht enttäuscht, wenn es ein Schüler nicht schafft. Große hat Verständnis für die Tücken der Abhängigkeit: „Sucht ist eine chronische Krankheit. Auch in stabilen Phasen kann man abrutschen. Das ist oft ein Auf und Ab.“ Aber alles verstehen heißt nicht alles verzeihen. Große sagt: „Wenn jemand gewalttätig wird oder in der Schule Drogen konsumiert oder andere dazu verleitet, kündigen wir sofort den Schulvertrag.“ Ohne Wenn und Aber. Eine Gelbe Karte zur Warnung gibt es nicht. Wird ein Schüler jedoch außerhalb der Schule rückfällig, setzen sich die Lehrer und Sozialarbeiter mit ihm zusammen, arbeiten gemeinsam an einer Lösung und leiten geeignete pädagogische Maßnahmen ein.

Viele Schüler schaffen es so, die Sucht zu bezwingen. „Sie funktionieren hier, weil das Setting ein anderes ist“, sagt Große. Wenn man von den Süchtigen spreche, reduziere man die Menschen auf einen Aspekt. „Hier haben sie die Möglichkeit, die anderen Aspekte zur Geltung zu bringen.“

Das berichtet auch Torben aus Südhessen: „Es gibt keine Cliquenbildung an der Schule. Wir haben Raum, uns zu entfalten.“ Er schätzt die kleinen Klassen und die individuelle Betreuung. Wichtig ist die Struktur, die allein der Stundenplan bietet. Wenn dann auch noch die Lernziele erreicht und die Prüfungen bestanden werden, geht es oft voran. „Erfolg ist der beste Motivator“, sagt auch der Schulleiter.
Für Torben ist es das Abitur vor Augen, das ihm hilft, abstinent zu bleiben: „Jetzt kann ich meine Zukunft planen, ich habe wieder eine Perspektive.“ Er will Ingenieurwissenschaften studieren, an einer Technischen Universität. Gut möglich, dass er in einigen Jahren bei einem Sommerfest davon berichten wird.

 

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